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Re: Zitate zum Nachdenken

Verfasst: Do 2. Okt 2025, 10:29
von Schermi
Jeden Morgen wartet Sitz dreizehn auf ein Kind ohne Frühstück, ohne warme Socken und doch liegt immer etwas dort.
Mein Name ist Heinz Müller, achtundfünfzig, Schulbusfahrer im Ruhrgebiet. Jeden Morgen starte ich den Motor um fünf Uhr fünfundvierzig. Draußen hängt der Atem wie ein kleiner weißer Rauchfaden, während das Radio von Staus und steigenden Preisen spricht. Ich bete still für grüne Ampeln und dafür, dass die Kinder sicher ankommen.
Sitz dreizehn ist links hinter der Notausgangstür. Jeder Busfahrer hat einen Platz, den er nicht vergisst. Dreizehn ist meiner.
Es begann im Januar, nach den Winterferien. Die Straßen waren noch voll von Salz, der Himmel grau. Ein Junge, den ich noch nie gesehen hatte, stieg ein. Kapuze tief, Rucksack schief. Er roch nach einem T Shirt, das längst hätte gewaschen werden sollen. Er setzte sich auf Sitz dreizehn, starrte auf seine Schuhe, und als er ausstieg, blieb ein dunkler Fleck zurück, wo die nassen Socken durch die Turnschuhe gedrückt hatten.
Am nächsten Morgen packte ich zu Hause eine kleine Brotdose. Ein belegtes Brötchen, ein Apfel, ein Trinkpäckchen Milch. Dazu ein Paar Socken aus dem Discounter und zwei Wärmepads. Auf einen Zettel schrieb ich: Für wen auch immer. Keine Fragen. Ich legte alles auf Sitz dreizehn.
Als wir an der Schule ankamen, war die Dose weg. Sauber zusammengefaltet lag sie unter dem Sitz, als wolle sie unsichtbar bleiben.
Von da an wurde Sitz dreizehn ein leises Geheimnis. Manche Tage blieb die Box unberührt, an anderen verschwand sie schon vor der dritten Haltestelle. Einmal fand ich einen Zettel darin. Du hast meinen Morgen gerettet. Ein anderes Mal: Diese Socken halten warm.
Ich fragte nie nach Namen. In Deutschland spricht man oft über Programme gegen Kindesarmut, über Zuschüsse und Gesetze. Aber hier, im Bus, geht es nicht um Politik. Hier geht es darum, dass ein Kind nicht hungrig im Klassenzimmer sitzt.
Nach und nach begann die Idee zu wachsen.
Ein Mädchen legte ein Päckchen Taschentücher in die Box, als hätte sie sich nur die Nase geputzt. Ein Junge, sonst still wie ein Schatten, steckte ein Heft hinein. Der Hausmeister am Depot bemerkte meine Quittungen und brachte mir kleine Tüten mit Cornflakes, die er beim Aldi gekauft hatte. Er sagte, er habe als Jugendlicher auch schon hungrig in der Schule gesessen.
Im März wollte mir die Schulleitung eine Dankeskarte geben. Ich nahm sie, legte sie zu Hause auf den Kühlschrank, neben die Stromrechnung. Papier wärmt keine Füße um sechs Uhr morgens.
Ein Montag im Frühling. Jayden, fünfte Klasse, stieg spät ein. Die Augen rot. Er setzte sich auf Sitz dreizehn, sah die Box, zog die Hand zurück.
Erst am letzten Halt nahm er sie, ging den Gang hinunter und gab sie einem kleineren Jungen mit zu großer Jacke und Gips am Arm. Hier, sagte er nur. Ich sah starr auf die Straße, meine Finger weiß am Lenkrad. Manchmal geschieht das Mutigste in absoluter Stille.
Im April lag plötzlich mehr in der Box als herausgenommen wurde. Ein Kakaopulver von einer Lehrerin, eine Streifenkarte von einer Mutter, die sie nicht brauchte. Eines Morgens fand ich einen Brief. Mein Sohn hat hier gesessen. Er schläft wieder besser. Danke, dass Sie ihn gesehen haben.
Die Sommerferien kamen, die Kinder waren laut vor Freude. Bevor sie hinausstürmten, stand ich auf. Hört zu, sagte ich. Sitz dreizehn gehört uns allen. Wenn ihr ihn braucht, nehmt ihn. Wenn nicht, helft mir, dass er nie leer bleibt. Sie nickten, ernst wie Erwachsene, die etwas Wichtiges verstanden haben.
Im August begann alles von vorn. Neue Listen, neue Namen. Wieder packte ich morgens eine Box. Brot, Obst, Müsliriegel, manchmal Kühlpads, manchmal Wärmepads. Obenauf ein Zettel. Du bist wichtiger, als du glaubst.
Einmal nahm ein Flüchtlingskind die Box. Später fand ich darin nur ein einzelnes Bonbon und einen krummen Zettel. Heute war ich es. Morgen nicht mehr. Danke. Ein anderes Mal erzählte mir eine Lehrerin, dass ein Mädchen nach dem Frühstück im Bus zum ersten Mal den Mut hatte, sich im Unterricht zu melden.
Kurz vor Weihnachten lagen gestrickte Handschuhe in der Box, rot und etwas schief. Dazu ein Brief. Wir brauchen Sitz dreizehn nicht mehr. Die Tafel hilft uns jetzt, und meine Schicht beginnt später. Diese Handschuhe werden jemandem passen. Frohe Weihnachten.
Wenn ich abends den Bus in die Halle fahre, streiche ich manchmal über die Lehne. Dort, wo so viele Hände ruhten, ist der Stoff heller geworden. Vielleicht ist das der Punkt, an dem eine Stadt aufhört, nur laut zu sein, und beginnt, menschlich zu werden.
Ich kann die Preise nicht senken. Ich kann keine Mieten zahlen. Aber ich kann einen Sitz bewahren. Einen Platz, der niemals leer bleibt.
Sitz dreizehn gehört uns allen. Solange er gefüllt bleibt, bleibt auch unsere Hoffnung gefüllt.
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